Nachdem ich selbst jahrelang von Mobbing betroffen war, schwor ich mir selbst, meine Kinder würden das niemals durchmachen müssen. Doch dieser Schwur erwies sich als Illusion.

Als das Mobbing meiner damals zehnjährigen Tochter begann, erzählte sie mir nicht sofort, wie schlimm es wirklich war. Mein Mann und ich hielten es zunächst für harmlose Streitereien unter Freundinnen. Selbst als meine Tochter von einem der Mitschüler von einer Sitzbank gestoßen wurde und sich dabei den Oberarm brach, glaubten wir an ein „Versehen“. Meine Tochter R. erzählte immer öfter von solchen Streitereien. Als ich mich an die Direktorin der Grundschule wandte, die das Problem sehr ernst nahm, kam meine Tochter anschließend lächelnd mit der Mobberin aus dem Gebäude und ich schämte mich, Alarm geschlagen zu haben. Ich redete mir ein, dann war es wohl doch nur ein Streit. Dabei hätte ich es besser wissen müssen.

Von der besten Freundin zur schlimmsten Feindin

Die Mobberin war ursprünglich R.s beste Freundin. Bei der Anmeldung zur Realschule wünschten sich beide, zusammen in eine Klasse zu kommen. Ich hoffte auf einen Neuanfang und riet R., der Freundin noch einmal eine Chance zu geben. Drei Wochen lang sah es so aus, als könnte das funktionieren. Dann begann alles von vorn.

R. erzählte mir täglich von Vorfällen. Ich versuchte, das zu relativieren: Vielleicht habe E. Probleme zuhause. Vielleicht sei es gar nicht so böse gemeint. Ich zeigte meiner Tochter Videos über „Gedankenpups“ und riet ihr, sich einfach an andere Freundinnen zu halten. Doch währenddessen zog sich mein fröhliches, pflichtbewusstes Kind immer mehr zurück. Hausaufgaben blieben liegen, Gespräche wurden knapper. Immer öfter hörte ich auf meine besorgte Nachfrage nur ein „Es ist nichts“.

Eines Sonntagabends, als wir sie ins Bett schicken wollten, brach sie völlig zusammen. Sie weinte herzzerreißend und hatte Panik. Wir meldeten sie krank. Es war September. Gerade mal ein Monat Schule und schon standen wir vor einem Scherbenhaufen.

Unbemerkte Schikane

Die Klassenlehrerin betonte immer wieder, sie habe kein Mobbing erkennen können, also gäbe es auch keines. Doch gerade bei Mädchen ist Mobbing oft unsichtbar. Es geschieht im Verborgenen, zwischen den Zeilen, und bleibt für Erwachsene leicht unbemerkt.

E. erzählte anderen Mitschülerinnen, meine Tochter habe schlecht über sie geredet, um sie so gegen meine Tochter aufzuwiegeln. Immer wieder drängte sie sich zwischen R. und ihre wenigen Freundinnen, lockte die Mädchen weg, bis meine Tochter allein dastand. Im Vorbeigehen gab es plötzliche Ohrfeigen, die wie ein Versehen wirken sollten. In der Umkleidekabine bewarf sie meine Tochter mit Schuhen, unbeobachtet, weil dort keine Lehrerin anwesend war.

Wenn R. sich Hilfe suchte und den Mut hatte, das alles zu erzählen, stritt die Mobberin alles ab. Sie brachte sogar andere Mädchen dazu, ihre Lügen zu bestätigen, aus Angst, selbst ins Visier zu geraten.

Erst als R. ihre Erlebnisse in einem selbst gestalteten, gewalttätigen Animationsvideo verarbeitete, wurde deutlich, wie groß die Verzweiflung war. Doch anstatt diesen Hilfeschrei als das zu sehen, was er war, wurde er gegen sie verwendet.

Alleingelassen vom System

Was dann folgte, waren Monate voller Kämpfe. Nicht nur gegen das Mobbing, sondern auch gegen die Institution Schule.

Wir baten um einen Klassenwechsel, doch die Sozialarbeiterin redete R. zu, alles werde geregelt, sie solle bleiben. Sie versprach, an R.s Seite zu sein und war dann kaum auffindbar. Später behauptete sie, wir Eltern hätten R. verboten, sie aufzusuchen.

Die Klassenlehrerin stellte meine Tochter mehrfach vor der ganzen Klasse bloß und drehte die Situation um: Plötzlich stand R. als eigentliche Mobberin da, während die Täterin geschützt wurde. Die Direktorin hielt sich bedeckt. Der Höhepunkt: Ein Gremium mit Eltern, Elternpflegschaft, Kindern, Sozialarbeiterin und sogar einer Familienberaterin (eigentlich zuständig für Kleinkinder). Dort wollte man Täterin und Opfer „zur Rede stellen“. Ich ließ R. zuhause und war im Nachhinein dankbar dafür. Denn in Wirklichkeit wurde die Mobberin in Schutz genommen, während man uns Eltern öffentlich angriff. Eine Tortur.

Zusammenbruch und Klinikaufenthalt

Im Januar ging R. noch immer nicht zur Schule. Ich reichte Beschwerde bei der Bezirksregierung ein. Erfolglos. Stattdessen hieß es, das familiäre Umfeld sei das Problem. Die Schule leitete ein Ordnungsverfahren gegen uns ein, weil R. fehlte.

Währenddessen verschlechterte sich ihr Zustand. Schließlich wurde sie mit gerade einmal elf Jahren in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, Depression. Sie blieb drei Monate stationär, bekam Antidepressiva. Für uns als Familie war das eine Zerreißprobe und zugleich eine Erleichterung, weil sie endlich Hilfe erhielt.

Das Ordnungsverfahren wurde erst eingestellt, als die Klinik den Ernst der Lage bestätigte.

Ein neuer Anfang mit Hürden

Wir suchten fieberhaft nach einer neuen Schule. Vier Schulen baten wir um Aufnahme, drei lehnten ab, nur eine reagierte. Heute ist R. dort angekommen, hat Freunde gefunden, lacht wieder und lernt mit Begeisterung. Sie besucht eine ambulante Therapie, um ihre PTBS aufzuarbeiten und mit den Diagnosen ADHS und Autismus umzugehen, die sie ebenfalls in der Klinik erhielt.

Die Mobberin E. muss sich inzwischen einer Strafanzeige stellen.

Was bleibt

Entschuldigt hat sich bis heute niemand. Weder die Schule, noch die Bezirksregierung, noch die Eltern der beteiligten Kinder. Stattdessen trugen die Verantwortlichen dazu bei, dass ein Kind krank wurde. Und nicht nur R., sondern unsere ganze Familie hat gelitten. Auch meine Ehe stand unter der Belastung. Wir fühlten uns im Stich gelassen, enttäuscht und allein.

Besonders bitter: Am Eingang der alten Schule prangt ein Schild mit der Aufschrift „Schule mit Courage. Schule ohne Rassismus.“ Doch von Courage war in dieser Zeit nichts zu spüren.

Ein Jahr später

Ein Jahr nach dem Zusammenbruch geht es R. wieder besser. Doch die Narben bleiben. Während meine ältere Tochter noch immer diese Schule besucht, beschränkt sich die „Prävention“ dort auf einen einzelnen Elternabend zum Thema Cybermobbing. Mehr nicht.

Kinderschutz sieht anders aus.

Meine Botschaft an betroffene Eltern:

  • Nehmt die Sorgen eurer Kinder ernst. Auch wenn es nach Kleinigkeiten klingt.
  • Vertraut eurem Bauchgefühl. Mobbing ist selten „nur ein Streit“.
  • Sucht frühzeitig Hilfe. Je eher man Strukturen aufbricht, desto besser.
  • Lasst euch nicht einschüchtern. Schulen und Behörden machen Fehler. Aber euer Kind braucht euch als Anwälte.

Hier bekommt ihr Hilfe

Es gibt inzwischen einige Vereine, die gegen Mobbing vorgehen. Auch ich habe mehrere angeschrieben. Leider ohne Erfolg. Oft waren sie zu weit entfernt, zu teuer oder nur auf Prävention ausgelegt. Doch wenn Mobbing bereits eskaliert ist, braucht es Intervention. Viele bekannte Angebote setzen außerdem auf die Resilienz der Kinder. Doch wenn ein Kind schon massiv betroffen ist, ist diese meist nicht mehr vorhanden.

Was ich empfehlen kann:

  • das Buch „Du Opfer! Wenn Kinder Kinder fertigmachen“ von Frau Prof. Dr. Mechthild Schäfer (Deutschlands führende Mobbingforscherin) und der Journalistin Gabriela Herpell. Es hilft, Mobbing zu verstehen und das eigene Kind besser einordnen zu können.
  • die Opferschutzhilfe „Weißer Ring e.V.“ kann dem Kind als zusätzlicher „Anwalt“ zur Seite stehen. Unter Umständen unterstützt er sogar bei Kosten für Kurse oder juristischen Schritten.

Meine Erfahrung: Schulpsychologen und Sozialarbeiter waren nicht so objektiv, wie sie vorgaben. Und Objektivität war in dieser Situation nicht das, was ich als Mutter brauchte. Ich brauchte jemanden, der sich schützend vor mein Kind stellte und uns als Familie stärkte. Diese Unterstützung habe ich beim weißen Ring gefunden.


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