Wer sich auf die Suche nach einer Heilung für seine psychischen Probleme begibt, bekommt einige Ratschläge um die Ohren gehauen. Betreibe Selbstfürsorge, übe dich in Achtsamkeit, fördere deine Resilienz und bewege dich. Doch bevor all das überhaupt möglich ist, ist etwas ganz anderes viel wichtiger: Akzeptanz.
Eine buddhistische Geschichte
In einem kleinen Dorf in Indien lebte eine alte Frau, die jeden Tag zum Fluss ging, um Wasser zu holen. Sie trug einen langen Stock über den Schultern, an dessen Enden zwei Tonkrüge befestigt waren. Einer der Krüge war vollkommen heil. Der andere hatte einen feinen Riss und verlor auf dem Heimweg immer einen Teil des Wassers.
Nach vielen Monaten des Dienens sagte der rissige Krug traurig zur alten Frau: „Es tut mir leid, dass ich ein schlechtes Gefäß bin. Du gibst dir so viel Mühe, mich zu füllen, und ich komme immer nur halbvoll zu Hause an.“
Die alte Frau lächelte liebevoll und sagte: „Hast du auf dem Heimweg jemals die Blumen am Wegesrand gesehen? Ich habe auf deiner Seite des Weges Samen ausgestreut. Und du hast sie jeden Tag bewässert, ohne es zu merken. Schau, wie schön sie blühen. Du bist nicht fehlerhaft. Du hast auf deine eigene Weise gedient.“
Akzeptiere den rissigen Krug
Die Frau hätte den Krug vielleicht reparieren können, aber sie hatte sich für etwas Tieferes entschieden: Sie hat nicht den Riss verändert, sondern die Perspektive darauf. Statt sich mit dem Riss zu beschäftigen und sich darüber zu ärgern, dass er da war, hat sie ihn akzeptiert und etwas Neues daraus entstehen lassen. Darauf zu warten, dass die Blumen wachsen, hat mehr Zeit gekostet, als es für die Reparatur benötigt hätte. Der Lohn durch die Blumen war jedoch größer und nachhaltiger.
Gleiches gilt für unsere psychische Erkrankung. Nicht alle seelischen Wunden lassen sich reparieren. Manche Narben bleiben. Aber wenn wir lernen, mit ihnen zu leben, statt gegen sie, entsteht etwas Neues und wir wachsen daran.
Nur ein Schnupfen
Stelle dir vor, du steckst dich bei einem Virus an und leidest nun Kopfschmerzen, Schnupfen und Husten. Beschäftigst du dich mit der Frage, warum dieser Virus ausgerechnet dich befallen hat oder was du hättest tun sollen, damit er dich nicht erwischt? Vermutlich nicht. Stattdessen konzentrierst du dich darauf, wieder gesund zu werden. Vielleicht nimmst du eine Schmerztablette, damit die Kopfschmerzen verschwinden, ruhst dich aus und schläfst viel. Du akzeptierst die Tatsache, dass es einige Tage in Anspruch nehmen wird, bis es dir wieder besser geht. Wichtige Termine verschiebst du und im Haushalt erledigst du nur das notwendigste, um dich zu schonen.
In mancher Hinsicht ist eine psychische Erkrankung vergleichbar mit einer Erkältung: Auch sie ist eine Reaktion deines Körpers auf Überlastung. Eine Erkältung ist im Grunde ein Abwehrmechanismus, mit dem dein Immunsystem auf einen Virus reagiert. Dein Körper zeigt Symptome, weil er kämpft und dir signalisiert, dass du Ruhe brauchst. Genauso reagiert auch dein Nervensystem, wenn es zu viel war: mit emotionalem und körperlichem Rückzug, Erschöpfung oder Antriebslosigkeit. Eine Depression zwingt dich zur Ruhe. Sie ist nicht dein Feind. Sie hat ihre absolute Daseinsberechtigung.
Ändere deine Blickrichtung
Natürlich ist es wichtig, dass man Traumata aufarbeitet und integriert. Jeder Trauma Therapeut wird dir aber das gleiche sagen: Du brauchst hierfür psychische Stabilität. Deine Vergangenheit ist in einer akuten Phase tatsächlich hinderlich. Akzeptiere, dass du diese Vergangenheit hast und akzeptiere, dass du psychisch krank bist. Die Erkrankung ist nicht dein Feind. Ebenso wenig ist die Vergangenheit dein Feind. Es gibt keinen Grund zu kämpfen. Was du brauchst, ist Selbstfürsorge. So wie du es bei einer Erkältung ebenfalls handhaben würdest. Komme in der Gegenwart an und stelle dir also die Frage: Was brauchst du jetzt, damit es dir besser geht und wie sehen deine nächsten Schritte aus? Sieh nicht nach hinten, sondern nach vorne.
Eine kleine Übung
- Setze dich bequem hin und schließe die Augen. Nimm 3 tiefe und ruhige Atemzüge, ein und aus. Spüre den Sessel oder den Stuhl unter dir, den Boden unter deinen Füßen, die Hände auf deinem Schoss.
- Benenne innerlich, was gerade da ist. Wie fühlst du dich? Fühlst du dich traurig? Oder vielleicht erschöpft? Vielleicht hungrig?
- Sage dir: Hallo Traurigkeit. Ich sehe, dass du da bist und das ist okay.
- Atme bewusst weiter und lass den Moment einfach da sein.
Der Sinn der Übung ist es, dich selbst wahrzunehmen, ohne zu bewerten und zu akzeptieren, dass das so ist. Wenn du negative innere Stimmen hast, kannst du diese Übung ebenfalls anwenden. Dann sagst du stattdessen „Hallo negative innere Stimme. Ich sehe, dass du da bist und das ist okay.“ Auf diese Weise gewinnst du Abstand zu dieser Stimme. Du akzeptierst sie als das, was sie ist. Eine negative innere Stimme, mehr auch nicht. Mit dieser Akzeptanz nimmst du ihr die Kraft und ihre Wirkung.
Akzeptanz ist auch Selbstmitgefühl
Indem du akzeptierst, dass du gerade traurig oder antriebslost bist, hörst du auf, dagegen zu kämpfen. Du gibst dir den Raum, traurig und antriebslos zu sein. Indem du aufhörst in der Vergangenheit zu verharren und dir den Kopf über das wie und warum zu zerbrechen, gibst du dir den Raum, dich um dich selbst zu kümmern. Das ist nichts anderes als Selbstmitgefühl.
Und nun sage ich dir zum Schluss:
Gib dir die Erlaubnis, nicht perfekt zu sein.
Gib dir die Erlaubnis, zu ruhen.
Gib dir die Erlaubnis, dich selbst in den Arm zu nehmen.
Gruß,
Tanja

