Ich stand in der Kinderarztpraxis, um ein Rezept abzuholen, als im Hintergrund ein Baby laut aufschrie. Frisch gepikst. Ich zuckte sofort zusammen und empfand dieses Geschrei als äußerst störend, ja fast schon schmerzhaft, aufgrund der Lautstärke. Mein Puls jagte sofort in die Höhe und ich verzog mein Gesicht. In diesem Moment wurde mir bewusst, warum die Kleinkindzeit meiner Kinder so extrem herausfordernd für mich war. Autisten sind unter anderem empfindlich gegenüber manchen Reizen. Es war ein kleiner „Aha-Moment“ für mich, wie man so schön sagt.


Das „anders sein“

Autisten und ADHSler werden es kennen: Das Gefühl, anders zu sein und nicht zu wissen, warum.

Auch ich kenne dieses Gefühl. Mein ganzes Leben lang begleitet mich dieser Gedanke schon. Eine Zeit lang versuchte ich sogar, einen eigenen „Slogan“ daraus zu kreieren. „Hauptsache anders“, sagte ich oft belustigt. Hätte man mich gefragt, inwiefern sich dieses „anders sein“ denn äußerst, hätte ich keine Antwort darauf gewusst. Dieses Andersartigkeit bekam ich im sozialen Kontext durch die Reaktion anderer gespiegelt. Fragende Blicke, runzelnde Stirn, Augenrollen, belustigtes Lachen bis hin zu auslachen und diverse Beleidigungen. Ich war halt mal wieder zu dumm, um etwas zu verstehen oder hab mal wieder etwas getan, was sich nicht gehörte. Wirklich erklärt hat mir jedoch nie jemand, wie ich es denn „richtig“ machen sollte.

Ich war halt anders, ohne zu wissen warum und habe mich stets bemüht, mich anzupassen, ohne zu wissen, woran denn eigentlich? Man gewöhnt sich daran und hinterfragt es nicht. So sah mein Leben und mein sozialer Alltag eben einfach aus und ich ging davon aus, dass ich mich einfach nur mehr anstrengen müsste, um irgendwann dieses Gefühl loszuwerden. Hätte ich bloß damals schon gewusst, dass ich mich an anderen Menschen hätte orientieren müssen. Nämlich die mit ADHS und Autismus. Es hätte mir so viel Leid erspart.


Zappelphilippa mittleren Alters?

Dann kam Social Media und der Content über Neurodivergenz. Anfangs war es noch ein witziges „welch Zufall, das kenne ich auch“ und es dauerte über Monate hinweg, bis ich schließlich verstand, dass ich selbst womöglich neurodivergent bin. Leichter zu erkennen war mein ADHS. Diese Seite war so viel lauter und ausgeprägter, dass es nach näherer Betrachtung nicht zu übersehen war. Gleichzeitig war es nicht einfach, diesen Blick für ADHS überhaupt erst zu bekommen. Ich klettere mit meinen knapp 40 Jahren nicht auf dem Sofa herum oder stehe mitten im Gespräch einfach auf. Ich kritzel auch nicht mehr bei jeder Gelegenheit auf einem Papier herum, während ich einem Gespräch folgen soll. Auch musste ich mir erstmal eingestehen, dass ich zwar ganz ordentlich, aber leider nicht ganz so sauber im Haushalt bin und sich mein Chaos anders zeigt. ADHS bei erwachsenen Frauen ist völlig anders, als bei kleinen Jungs, wer hätte das gedacht.

Die autistische Seite wurde erst deutlich, nachdem ich meine ADHS Diagnose und meine ADHS Medikamente erhalten hatte. Auch das wird einigen AuDHSlern sehr bekannt vorkommen. Mein ADHS wurde leise und ich wurde irgendwie „schrullig“. Die Welt war geordneter und gleichzeitig lauter. Ich begann, mich ebenfalls mit der Thematik Autismus auseinander zu setzen und entdeckte, dass Autismus generell gerne überspitzt dargestellt wird und Frauen zudem stark unterrepräsentiert sind. Es war ein halbes Studium notwendig um zu verstehen, was genau damit gemeint ist, während ich immer wieder die Dinge zu wörtlich nahm und nicht verstanden hatte, was wirklich gemeint war.

Und dann stehst man plötzlich da, hat eine Diagnose oder begründet und belegte Verdachtsdiagnose in der Hand und beginnt das Leben und all die Probleme darin zu reflektieren. Ein „Aha-Moment“ jagt den nächsten.


Ich bin ja gar nicht falsch, nur anders

Sieh an, ich bin keine unfähige Mutter, sondern hatte schlicht Probleme aufgrund meiner Neurodiversität. Ja, ich hatte mehr Probleme als andere Mütter, die Lautstärke der Kinder zu ertragen und zu verarbeiten. Die Unordnung der Kinder war für mich wirklich schwer zu ertragen. Diese ständige Müdigkeit kam nicht nur von dem unterbrochenen Schlaf. Ich verbrauche tatsächlich mehr Energie aufgrund meiner Neurodiversität. Es war wirklich sehr schwierig für mich, an all die Termine zu denken und ja ich bin leider sehr vergesslich. Dass ich Schwierigkeiten hatte, meinem Mann gegenüber Nähe zu zeigen, weil ich schon so erschöpft von der Nähe meiner Kinder war, liegt ebenfalls nicht an fehlender Liebe und Zuneigung.

Ich bin nicht falsch. Ich bin nur anders. Gut anders. Ich habe nur nicht gewusst, wie anders. Hätte ich es gewusst, hätte ich schon viel eher andere Wege gefunden, den Alltag zu meistern. Jetzt, da ich es weiß, baue ich bewusst Ruhephasen für mich ein. Wenn es zu laut ist, verdecke ich meine Ohren, auch wenn es doof aussieht. Ich bitte viel mehr um Hilfe, um die Last nicht alleine tragen zu müssen. Und am wichtigsten: Ich habe mich akzeptiert, wie ich bin und ich mag mich so, wie ich bin.


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